M. hatte sich am Montag an die Haustür gelehnt, den Blick nach oben gerichtet und so still, dass er das letzte Blatt des Kastanienbaumes beinahe fallen hörte. Er sah den Baum an und in seinen Augen lag ein Straucheln. Als er sich von der Tür abstiess und den kleinen Garten durchschritt, blickte er nicht mehr zum Baum zurück.


Es war an einem Mittwochmorgen und M. schloss die Tür ein wenig zu laut hinter sich. Es regnete nicht, aber es schien auch keine Sonne. M.s Hand krampfte sich noch einen Moment um die Türklinke, dann verliess er sein Zuhause.

Am Kastanienbaum vor dem Haus hingen nur drei Blätter.

 

* * *

 

M. sass neben L. und es herrschte eisiges Schweigen. M. kratzte mit dem Messer über den Tellerrand, ein Geräusch, das L. dazu brachte, die Hände zu krampfen, ganz leicht nur, doch es reichte, um weisse Knöchel sichtbar zu machen.

M.s Blick fiel auf L.s abgeblätterten Nagellack. Er war rot.

 

* * *

 

L. lief M. nach, die Tür hinter ihr fiel nicht richtig ins Schloss. Sie schrie M. Worte nach, die keinen anderen Zweck hatten, als den, ein bisschen wehzutun und obwohl L. das wusste, nahm sie sie auch später nicht zurück, als M. nach Hause kam.

Sie blickte aus dem Fenster und sah, wie der Kastanienbaum ein Blatt verlor.

 

* * *

 

M. trank einen Schluck Rotwein, der ein bisschen zu sauer schmeckte, um fruchtig zu sein. Er blickte zu L. und L. blickte nicht zurück. M. wusste, dass L. nach dem Alltag suchte und L. wusste, dass M. das auch versuchte.

L.s Nagellack war heute blau und glatt. Fast konnte M. sich darin spiegeln.

 

* * *

 

Es war am Freitag, als M. nicht aus dem Haus kam – den ganzen Tag nicht. Die Sonne schien, beinahe tauchte sie den gesamten Garten in goldenes Licht.

Der Kastanienbaum warf bizarre Schatten und verlor an diesem Tag keines seiner Blätter.

 

* * *

 

Es war am Sonntag, als L. weinte. Sie weinte lautlos, beinahe in völliger Stille und als M. über den Teller zu ihr sah, fühlte er sich nicht in der Lage, ihre Hand zu nehmen. Er schwieg und L. schwieg auch und so sassen sie in dieser kleinen Küche und am Ende stand L. auf und tat so, als würde sie nach Gewürzen suchen. Vielleicht suchte sie auch M.s Berührung, M. war sich nicht sicher. L.s Finger wühlten sich durch den Gewürzschrank, die Nägel heute blass, beinahe farblos.

 

* * *

 

M. hatte sich am Montag an die Haustür gelehnt, den Blick nach oben gerichtet und so still, dass er das letzte Blatt des Kastanienbaumes beinahe fallen hörte. Er sah den Baum an und in seinen Augen lag ein Straucheln. Als er sich von der Tür abstiess und den kleinen Garten durchschritt, blickte er nicht mehr zum Baum zurück.

 

* * *

 

Es war vielleicht das erste Mal seit zwei Wochen, dass L. M.s Blick wirklich erwiderte. Ihre Augen waren gerötet und ihre Haut durchscheinend. L. musste nichts sagen, um M. zu zeigen, wie weh es tat.

M. konnte später nicht einmal mehr sagen, welche Farbe L.s Nägel heute gehabt hatten.

 

* * *

 

M.s Augen waren beinahe starr, als er drei Tage später die Tür hinter sich schloss und der Baum trug nun keine Blätter mehr, er war ganz kahl.

Er trat ein paar Schritte auf ihn zu, blieb wieder stehen, sein Atem bildete weisse Wölkchen in der kalten Luft.

Als er endlich auch die letzten Meter überwand, seine Hände die raue Rinde berührten, weinte er. Langsam liess er seine Stirn gegen den Stamm sinken und obwohl alles hier draussen nach Regen roch und nach kalter Luft, roch es plötzlich auch nach beissendem Nagellack.

Eine heftige Windböe wehte durch den kleinen Garten, doch der kahle Kastanienbaum rührte sich nicht.

 

* * *

 

Es war an einem Freitagnachmittag, als M. und L. vor dem Kastanienbaum standen, die Hände ineinander verflochten und an diesem Freitagnachmittag weinten sie beide.

Es regnete nicht mehr, gerade noch rechtzeitig hatten die Schauer nachgelassen und am Himmel stand die Sonne, beinahe etwas dunstig noch, doch von sanften Farben umspielt.

M. machte sich keine Illusionen. L.s Nagellack war heute schwarz, genau wie ihre Kleidung.

 

* * *

 

Es war an einem Dienstabend und der Baum trug noch alle drei Blätter, als L. gerade beschlossen hatte, ihre Nägel rot zu lackieren.

M. würde bald nach Hause kommen und er mochte es gerne, wenn L. die Nägel rot trug. Sie schraubte das kleine Fläschchen auf, zog das Pinselchen heraus und strich die überschüssige Farbe ab. Einen Moment sah sie aus dem Fenster, die Augen auf den prächtigen Baum in ihrem kleinen Garten gerichtet.

Es roch nach Nagellack und draussen war der Herbst endgültig eingetroffen. L. lächelte, als sie Nils sah, er sprang gerade in den grossen Laubhaufen unter dem Baum und die trockenen Blätter flogen quer durch die Luft. Sein helles Kinderlachen war selbst in der kleinen Küche zu hören.

L. wandte den Blick wieder ab und ihren Nägeln zu. Einen nach dem anderen bemalte sie, das Gesicht ruhig und konzentriert.

Als L. wenigen Sekunden später das Pinselchen aus der Hand flog, als sie aufstand und dabei der Stuhl mit einem lauten Knall zu Boden fiel, als sie aus der Küche rannte, die Haustür so heftig öffnete, dass sie gegen die Wand stiess und eine Vase kaputtging, da war M. gerade auf dem Weg vom Auto zum Haus und er hielt einen Moment inne, ehe er seine Schritte beschleunigte, ganz so, als würde er es ahnen.

* * *

 

Es war an einem Freitagnachmittag, als M. und L. vor dem Kastanienbaum standen, die Hände ineinander verflochten und an diesem Freitagnachmittag weinten sie beide.

Es regnete nicht mehr, gerade noch rechtzeitig hatten die Schauer nachgelassen und am Himmel stand die Sonne, beinahe etwas dunstig noch, doch von sanften Farben umspielt.

M. machte sich keine Illusionen. L.s Nagellack war heute schwarz, genau wie ihre Kleidung.

M.s Blick glitt über den kargen Kastanienbaum und seine Hand drückte L.s Hand etwas fester. Nur langsam senkte er den Blick, betrachtete beinahe atemlos diese kurzen Zeilen, eingeritzt in die raue Rinde des Baumes.

Seine Sicht verschwamm und dieses Mal war es L., die seine Hand fester drückte.

 

Nils

2005-2013

In Liebe

 

* * *

 

Es war an einem Dienstagabend, als M. und L. ihren Sohn verloren, ganz plötzlich und noch während M. im Auto sass und L. sich ihre Nägel lackierte.

Es war ein Fall und M. würde nie verstehen, wie ein einfacher Sturz von einem einfachen Baum die ganze Welt hatte verkehrt drehen können.

Es war an einem Freitagnachmittag, als M. und L. vor dem Kastanienbaum standen, den sie beide gepflanzt hatten, die Hände ineinander verflochten und weinend.

Es regnete nicht mehr, gerade noch rechtzeitig hatten die Schauer nachgelassen und am Himmel stand die Sonne, beinahe etwas dunstig noch, doch von sanften Farben umspielt.